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Vergängliche Schönheiten aus Eis

Wer Richtung Zermatt das Mattertal hochfährt oder sich dem monumentalen Monte-Rosa-Massiv über das Aostatal nähert, erkennt, wie klein wir Menschen sind. Vor uns sehen wir das Gebirgsmassiv mit dem höchsten Punkt der Schweiz, der Dufourspitze. 

Ein atemberaubendes 360-Grad-Panorama geniesst man am besten vom Gornergrat. Dort bietet sich ein unvergesslicher Blick auf das Matterhorn, die Monte-Rosa-Gruppe und den Gornergletscher. Die Gletscher, die vergänglichen Schönheiten aus Eis, stimmen uns nachdenklich. Über Jahrtausende hinweg entstanden ziehen sie sich nun durch die steigenden Temperaturen stetig zurück. Laut Experten dürften Gletscherabbrüche häufiger auftreten. Die jüngsten Ereignisse geben ihnen recht. 

Der Gornergletscher zählt zu den ältesten alpinen Eisriesen. Bei diesem soll nun eines der 16 Wasserkraftprojekte entstehen, die bei der Volksabstimmung zum Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung aufgelistet wurden. Man einigte sich damals am «runden Tisch», dass diese Projekte trotz unterschiedlichem Planungsstand dringlich sind. 

Für den Mehrzweckspeicher «Gornerli» liegt bis heute kein reifes Bauprojekt vor. Trotzdem will der Ständerat den Bau sofort realisieren und sämtliche Kritik am Projekt unterbinden. Mit dem sogenannten «Beschleunigungserlass» soll allen Organisationen das Recht entzogen werden, gegen dieses Projekt zu opponieren. Obwohl der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein zum Bundesgesetz damals etwas anderes versprochen hat: «Wenn grosse Anlagen für Strom aus erneuerbaren Energien geplant werden, kann und soll auch die Bevölkerung mitwirken. Auch die juristischen Beschwerdemöglichkeiten von Privatpersonen und Verbänden bleiben bestehen.»

Der bürgerliche Ständerat fühlt sich in keiner Weise an dieses Versprechen gebunden. Da er damit jeden Kompromiss zur Wasserkraft blockiert, droht der Beschleunigungserlass zu scheitern. Schade, dass sich die Politik nicht an ihre Versprechen hält. Vor allem, weil noch offen ist, ob das Projekt «Gornerli» wirtschaftlich überhaupt sinnvoll ist. Da mit der 85 Meter hohen Staumauer auch ein Teil des Gletschers geflutet werden soll, verliert das Stauvolumen über 60% an Kapazität. Offen ist die Frage, wie sich diese Flutung auf den prognostizierten Stromertrag auswirken wird. Nicht geklärt ist, wie sich das Naturgefahrenrisiko für Zermatt mit dem auftauenden Permafrost verändern wird und welche Ausgleichsmassnahmen vorzusehen sind. Der Ständerat macht es sich etwas einfach, wenn er all diese Fragen ignoriert und auf ein Projekt mit so vielen Unbekannten pocht.

Im Gegensatz dazu gibt es auch gute Beispiele. Die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), die Umweltverbände und der Kanton Bern arbeiteten konstruktiv zusammen, um bei den Grimselkraftwerken Optimierungen und Ausgleichsmassnahmen zu realisieren. Dieses vorbildliche Vorgehen zeigt, dass man die Spielregeln nicht ändern muss.

Beim Zubau von Kraftwerken muss der Fokus auf die Projekte gelegt werden, die bereits heute bewilligungsfähig sind. Bei den 16 Projekten aus dem Stromgesetz geht es bei 12 einzig um die Vergrösserung bestehender Anlagen. Zudem sollten die bereits bewilligten Projekte, wie das Höherstauen des Lago Bianco oder des Göschernalpsees, in Angriff genommen werden. Bestehende Gletscher mittels neuer Staumauer zu fluten ist der falsche Weg.

Matthias Samuel Jauslin
Matthias Samuel Jauslin

ist seit 2015 Mitglied des Nationalrats, Mitglied der Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen (KVF) sowie Mitglied der Geschäftsprüfungskommission (GPK). Er ist Geschäftsführer und Hauptaktionär eines Unternehmens, das im Bereich Elektroanlagen, Telematik und Automation tätig ist.